Die Einrichtung in Waldniel-Hostert, bis 1937 Josefsheim der Franziskaner, dann Zweiganstalt der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Johannistal, war auf vielfältige Weise in die staatlichen Strukturen eingebunden und trug mit dazu bei, die menschenverachtenden Forderungen der nationalsozialistischen Rassenideologie auch gegenüber geistig Kranken und Behinderten durchzusetzen.
Zwangssterilisation
Die Nationalsozialisten propagierten das „gesunde“ Volk und sprachen in ihrem Rassenwahn Behinderten das Lebensrecht ab. Zunächst wurden geistig Behinderte und Kranke zwangssterilisiert. Das Allgemeine Krankenhaus Viersen richtete lt. RdMdI vom 16. Oktober 1934 ein Zimmer mit zehn Betten ein, um den chirurgischen Eingriff zur „Verhütung des erbkranken Nachwuchses“ vorzunehmen. Sterilisiert wurden „im Fortpflanzungsalter befindliche Menschen mit angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, erblicher Fallsucht oder Alkoholismus, jugendliche erblich Blinde, Taube…..“, auch aus Waldniel-Hostert. Das zuständige „Erbgesundheitsgericht“ in Mönchengladbach tagte zwecks Sterilisation von Waldnieler Pfleglingen am 16. April 1935 zum ersten Mal (Chronik der Franziskanerbrüder von Waldbreitbach).
Freitags wurde der Patient im AKH aufgenommen, am Montag operiert, am Dienstag in der Regel entlassen. Über Jahre sei das Zimmer ständig ausgelastet gewesen. Die Patienten kamen aus Johannistal, Waldniel-Hostert und aus anderen Heimen, viele auch von zu Hause, von wo sie notfalls auch mit Polizeigewalt abgeholt wurden (Die Heil- und Pflegeanstalt Johannistal/Süchten und die Euthanasie. S. 5, Viersen 1989).
Geplante Mangelversorgung
Zeitgleich mit den Aktionen zur Zwangssterilisation wurde der Pflegesatz für die aufgrund der Fürsorgegesetzgebung untergebrachten Patienten gesenkt. 1935 betrug er offiziell in den Provinzial-Heil- und Pflegeanstalten der Rheinprovinz 2,50 RM/Tag, in Privatanstalten wie dem St. Josefsheim 1,70 RM. Für den Tagesverpflegungssatz wurden 0,47 RM veranschlagt. In den Konzentrationslagern wurde mit 0,60 RM gerechnet (nach Henrik Graf, Verlegt nach unbekannt, S. 46). Die Sterbezahlen in allen Anstalten stiegen aufgrund Mangelernährung, nicht ausreichender Heizung und mangelhafter Hygiene. Nach Kriegsende ist die Sterblichkeit z.B. in Galkhausen/Langenfeld dreimal hoch wie wie im Jahr 1938 (Sparing, Frank, Hungersterben in rheinischen Anstalten nach 1945, Schatten und Schattierungen, 2013, S. 125).
Der „Euthanasie-Erlass“
Mit Kriegsbeginn startete Berlin das sogenannte Euthanasie-Programm. Grundlage für diese Verbrechen war ein auf den 1. September 1939 datierter Erlass Hitlers. Er verfügte, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung der Gnadentod gewährt werden kann.“
Dieser Text setzte das schon vorbereitete geheime Morden in ausgewählten Tötungsanstalten in Gang. 200.000 Kranken sollte es den Tod bringen. Um die Spuren zu verwischen, wurden die von Medizinern ausgewählten Menschen zuerst in entfernte Anstalten „verlegt“, bis sie dann z.B. in Hadamar nahe bei Limburg an der Lahn vergast oder im besetzten Polen und in Tschechien ermordet wurden. Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Süchteln-Johannistal Zweigstelle Waldniel wurden laut Transportlisten 1044 Patienten in andere Anstalten transportiert, z.B. zunächst nach Galkhausen/Langenfeld, dann weiter zur Vergasung nach Hadamar. Das Foto (links) aus dem Ausstellungskatalog „Verlegt nach Hadamar“ zeigt als Scheingräber getarnte Massengräber auf dem dortigen Anstaltsfriedhof.
Belegung und Verlegungen
Die genauen Belegungszahlen der Abteilung Waldniel sind nicht bekannt, so dass sich eine Übersterblichkeit nicht feststellen lässt. Allerdings gibt es einige gesicherte Angaben.
Ab 11. September 1939 wurden 326 Patientinnen aus „Maria Hilf“, Gangelt, nach Waldniel verlegt. Am 10. Oktober 1939 waren in der Zweiganstalt 1049 Kranke und 27 Schwestern gemeldet. Waldniel war also heillos überbelegt.
Ein Jahr später am 10. Oktober 1940 waren 755 Kranke gemeldet (Kreisarchiv Viersen, Waldniel 611).
Am 19. Mai 1941 wurden 106 Männer, am 16. Juli nochmals 50 von Waldniel nach Galkhausen, heute Langenfeld, verlegt. Viele von ihnen wurden kurz darauf in Hadamar bei Limburg/Lahn vergast. In diesem Jahr wurde auch die Kinderfachabteilung mit 200 Betten im ehemaligen Schulhaus, dem „Schutzengelhaus“, eingerichtet und im Dezember mit ersten Transporten belegt.
Am 21. Dezember 1942 befanden sich dort 122 Kinder (ALVR Patientenakten).
Am 14. April 1943 wurden 134 Frauen aus Süchteln-Johannistal in Hostert 15 als wohnhaft gemeldet (Kreis Viersen, Waldniel 611).
Am 14. Mai 1943 meldete die Rheinprovinz, Johannistal sei für die Wehrmacht geräumt, nur notwendige Betten für dringende Neuaufnahmen und die Unterbringung der Arbeitskräfte würden vorgehalten. Waldniel sei nicht geräumt, da sie „mit Rücksicht auf die in dieser Anstalt bestehende Kinderfachabteilung …. im Übrigen nur mit Geisteskranken belegt werden“ könne.
Ab 1. Juli 1943 wurde auch die Zweiganstalt Waldniel „geräumt“. Die Gekrat, Gemeinnützige Krankentransport AG, sollte 510 Männer, 588 Frauen und 176 Kinder abtransportieren (ALVR 13073). Am 14. Juli 1943 sollten 82 geisteskranke Frauen nach Weilmünster (Oberlahnkreis) verlegt werden.
Ab Anfang September 1943 wurde Waldniel nun als „Ausweichkrankenhaus Hehler“ geführt. Bomben- und Unfallopfer wurden hier versorgt. Kleine Patienten z. B. aus der Kinderklinik Düsseldorf fanden 1944 Aufnahme, ebenso an Tuberkulose erkrankte Kinder von „Ostarbeiterinnen“ (Kreisarchiv Viersen, Waldniel 795).
Im Februar 1944 waren 198 geistig Kranke und Behinderte als landwirtschaftliche Arbeitskräfte untergebracht. Am 2. Februar 1944 meldete die Provinzialverwaltung 450 Betten als freigemacht, 38 Betten im Ausweichkrankenhaus belegt und somit 412 Betten belegbar. Seit dem 1. Februar 1943 seien 888 Kranke abtransportiert worden (ALVR 14295). Ende September 1944 wurden die (ausgebombten) Patienten von Hephata, Mönchengladbach, zum Sauerland evakuiert.
Zum Jahr 1942 liegen zurzeit keine Zahlenangaben vor, ebenso nicht zu den Monaten ab Ende Oktober 1944. Als die Front näherrückte, nutzte die deutsche Wehrmacht die Anstalt als Lazarett, dann ab 1. März 1945 waren es die amerikanischen Streitkräfte.
Ende März 1945 scheint der „normale“ Betrieb der von den Kampfhandlungen weitgehend verschont gebliebenen Zweiganstalt wiederaufgenommen worden sein.
Patientenschicksale
Die Namen der Patienten Walter und Hubert sind aus Personenschutzgründen geändert. Als Quellen dienten die Patientenakten im ALVR in Pulheim und die Todesbescheinigungen der Gemeinde Waldniel im Kreisarchiv Kempen, die ich einsehen konnte.
Walter – geistig krank
Walter, von Beruf Gärtner, erkrankt an Schizophrenie und wird 1934 in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen eingewiesen. Zwei Jahre später wird er sterilisiert und nach Bonn verlegt. Da bringt der 1,82 m große Mann 76 kg auf die Waage. Die Mutter ist besorgt, dass ihr Sohn nicht richtig ernährt werden würde. Die Anstalt antwortet im März 1937, der Patient erhalte wegen einer früheren Magenerkrankung eine besondere Diät, Weißbrot, Ei und Milch, die Ernährung sei zur Sättigung voll ausreichend.
Walter bleibt nicht lange in Bonn, im Sommer des Jahres kommt er nach Süchteln-Johannistal. „Achtung Ausreißer“ steht in der Krankenakte. Im August 1939 wird er wegen „Platzmangels“ in die Zweiganstalt Waldniel verlegt. Da hat Walter vier Kilo an Gewicht verloren.
Am 1. Juli 1940 füllt die Stationsärztin Frau Dr. Ka. den Meldebogen aus, der zwecks systematischer Erfassung „unproduktiver“ Menschen nach Berlin geschickt wird. In die alles entscheidende Zeile zur Arbeitsleistung trägt sie „k. Besch.“, (keine Beschäftigung) ein. Der Gewichtsverlust setzt sich fort. Im Januar 1941 wiegt Walter zehn Kilo weniger. Ende April wird er „in Bettbehandlung genommen“. Vier Wochen dauert sie, dann stirbt er laut Todesbescheinigung an Lungenentzündung. Das Sputum wird untersucht, Ergebnis: positiv. In einem bewegenden Brief möchte Walters Mutter wissen, wie ihr Sohn gestorben sei. Dr. Sc. antwortet ihr, solch ein plötzlicher Tod sei bei Schizophrenen möglich. Da Walters Name sich nicht in der Gräberliste des Anstaltsfriedhofs findet, ist zu vermuten, dass die Angehörigen seine Leiche abgeholt haben.
In der Zweiganstalt Waldniel versterben 1941 35 Patienten mit der Diagnose „Schizophrenie“. Bei 13 von ihnen (37 %) wird als Todesursache eine Lungenerkrankung angegeben, bei 8 (23 %) Marasmus bzw. Kräfteverfall. Insgesamt gibt es in diesem Jahr in der Erwachsenenabteilung 79 Todesfälle, 65 % sind wie Wilhelm keine 50 Jahre alt. Die Sterbehäufigkeit ist ungleich verteilt. Die meisten Patienten sterben in der ersten Jahreshälfte, 16 allein Monat April.
Hubert – geistig behindert
Bei der Geburt von Hubert sei einiges schief gelaufen, er sei tiefblau gewesen, berichten die Eltern Prof. Löwenstein, dem leitenden Arzt der Provinzial-Kinderanstalt für seelisch Abnorme in Bonn, im März 1930. Da ist Hubert neun Jahre alt und hat in den letzten beiden Jahren mehrere schwere Krampfanfälle erlitten. Der Arzt diagnostiziert „Idiotie“. Als Beobachtungsergebnis notiert er: „Hochgradige allgemeine Bewegungsunruhe. Läuft planlos umher; was ihm erreichbar ist, sucht er in den Mund zu stecken. Ist eigentlich nicht zu fixieren. Gegenstände, die man ihm vorhält, beleckt er, betastet sie prüfend oder greift danach. In die dargebotene Hand schlägt er mehrmals und lacht dabei. Die gleichzeitig verbale und gestikulatorische Aufforderung sich hinzulegen führt er aus. Spricht nichts, macht oft schnalzende oder schmatzende Laute mit dem Mund“. Dr. Löwenstein fasst zusammen: „Unterbringung in einer Idiotenanstalt ist angezeigt, da die Eltern wegen der zunehmenden Bewegungsunruhe das Kind nicht mehr genügend beaufsichtigen können“.
Hubert kommt am 8. April 1930 in das St. Josefshaus in Mönchengladbach-Hardt, eine heute noch bestehende kirchliche Einrichtung, die damals von Vinzentinerinnen geführt wird. Dort bleibt er fast elf Jahre. Die regelmäßigen Eintragungen in den Krankenblättern, jeweils drei im Kalenderjahr, wiederholen im Großen und Ganzen die durch den Arzt festgehaltenen Beobachtungen. Mehrfach wird notiert, dass Hubert körperlich gesund sei, gut aussehe, keine Krämpfe gehabt habe, mit einem Faden spiele, sich aber von den anderen absondere und immer teilnahmloser werde. Vom Jahr 1936 an werden die Eintragungen negativer. Er sei geistig tief, sehr unruhig, unreinlich und schmutzig, heißt es im im April.
Im Mai 1940 wird Hubert ausgemustert. Am 3. Mai folgt eine Nachuntersuchung. Eine Verständigung sei nicht möglich, er stoße nur unartikulierte Laute von Zeit zu Zeit aus, es gebe keinerlei Fortschritt, ist in der Krankenakte zu lesen.
Anfang Februar 1941 wird Hubert nach Waldniel verlegt – aus „Platzgründen“. Er ist 20 Jahre alt, 1,55 m groß und wiegt 41 kg. Er kommt auf Station M IIIa. Dr. Sc. hält am Aufnahmetag fest: „tief stehender Schwachsinniger, unrein, dauernde Pflege erforderlich“. Er notiert unter dem 7. Februar: „liegt stumpf, teilnahmslos im Bett, gibt a. B. keine Antwort, unrein, Ausfluss linkes Ohr, 38 Grad.“
Am 3. März schreibt der Arzt: „Ausfluss am Ohr ist zurückgegangen. Steht seit einigen Tagen auf. Uninteressiert, teilnahmslos, zu nichts zu gebrauchen!“ Bis zu Huberts Tod sind es noch 12 Monate.
Die Eltern machen sich Sorgen. Sie fürchten, dass ihr Sohn Hubert in Waldniel verhungert, und möchten, dass er wieder zurück nach Hardt kommt. Daher wenden sie sich an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz in Düsseldorf. Mit Schreiben vom 5. Juni 1941 teilt dieser ihnen mit, dass Hubert in Waldniel sachgemäß versorgt und gepflegt werde und jetzt 40 kg wiege. Eine Rückverlegung komme aus Platzgründen nicht in Frage. Das Körpergewicht des 20-jährigen Patienten ist im Schreiben von Anfang Juni laut erhaltener Gewichtskurve korrekt angegeben. Einen Monat später, ab Juli, beginnt der kontinuierliche Gewichtsverlust. Hubert wiegt bei seinem Tod 30 kg.
Am 1. August 1941 unterschreibt Dr Sc. den Meldebogen, der nach Berlin gehen soll. Als Diagnose trägt er ein: „wahrscheinlich geburtstraumatisch exogener Schwachsinn“, unter Hauptsymptome „blöde, teilnahmslos, unrein“, unter Beschäftigung „keine“, unter regelmäßigem Besuch die Anschrift der Eltern.
Dr. Hildegard Irmen (Wesse) notiert:
Juli 1941: „Nichts Besonderes“
November: „Dauernd bettlägerig, völlig idiotisch“.
Februar 1942: „Sehr unsauber, zu nichts zu gebrauchen, völlig blöd.“
Mai: „Geht jetzt körperlich immer mehr zurück, hat eine Parulis im linken Unterkiefer, die sich zum Abszess entwickelt hat, der geöffnet werden musste.“ (Parulis – dicke Backe)
Juni: „Abszesswunde ist jetzt gut abgeheilt und geschlossen.“
Juni: „Patient ist heute Nachmittag um 15:15 Uhr an Marasmus und allgemeiner Entkräftung gestorben. + .“
In der Todesbescheinigung notiert Dr. Hildegard Wesse als Grundleiden „exogener Schwachsinn, Geburtstrauma mit cerebralen Krampfanfällen“, als Begleiterkrankung „Marasmus bei Psychose“ und als Todesursache „Herzschwäche“.
Die Anstalt spricht dem Vater ihr herzlichstes Beileid aus, teilt den Zeitpunkt der Beerdigung mit und weist auf die Straßenbahnverbindung von Mönchengladbach nach Waldniel hin. Hubert hat sein Grab auf dem Anstaltsfriedhof (Name geändert).
Aus dem St. Josefshaus in Mönchengladbach-Hardt wurden wie Hubert auch viele Kinder verlegt. So ging im Mai 1943 ein Transport mit 143 kleinen Patienten nach Wien. Zu ihnen gehörte Hans K. aus Krefeld, der aufgrund eines Geburtstraumas im Jahr 1935 in Hardt mit dem Vermerk „Idiotie, unruhig und unreinlich“ aufgenommen worden war. Er starb für die Familie überraschend am 3. August in der Wiener Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“. Eine Autopsie wurde durchgeführt und das Hirn in einer Formaldehyd-Lösung konserviert. Beigesetzt wurde es zusammen mit weiteren fast 600 medizinischen Präparaten auf dem Wiener Zentralfriedhof im Jahr 2002 (Ingrid Schupetta, Hans K., geboren in Krefeld, ermordet in Wien, Manuskript, 2003). Informationen zur Wiener Kinderfachabteilung.
Dieses Schicksal ist Hubert erspart geblieben. Wie Hans K. hatte er ein Geburtstrauma erlitten, war er geistig behindert, unruhig und unreinlich, war zu nichts nutze. Wie dieser starb er an Marasmus. Seine Eltern konnten allerdings Abschied nehmen und zur Beerdigung ihres Kindes anreisen.
Was Hans K. angeht, gilt seine Ermordung in der Wiener Kinderfachteilung als gesichert, und Hubert?
Huberts Krankenakte hat Dr. Hildegard Wesse, geb. Irmen, geführt und die Todesbescheinigung ausgestellt. Für die Annahme, dass diese Ärztin, Ehefrau von Hermann, die später in Uchtspringe, heute in Sachsen-Anhalt, dreißig Patientinnen tötete, um Betten freizumachen für Neuankömmlinge, bereits in der Männerabteilung der Zweigstelle Waldniel die Spritze nutzte, um Patienten zu „erlösen“, gibt es bislang keinen Hinweis. Allerdings sind die Patientenakten noch nicht medizinhistorisch ausgewertet worden.
Kinderfachabteilung Waldniel
Durch eine 1939 eingeführte Meldepflicht wurden alle Neugeborenen erfasst, die behindert waren. Diese und auch ältere Kinder wurden ab 1940 in neu eingerichteten Tötungsanstalten, den sogenannten Kinderfachabteilungen (KFA), aufgenommen. Davon gab es im gesamten nationalsozialistischen Herrschaftsgebiet etwa dreißig.
Dr. Georg Renno
In Waldniel-Hostert wurde zu diesem Zweck das ehemalige „Schutzengelhaus“ der Franziskaner zu einer solchen Einrichtung mit 200 Betten umgebaut. Hier war zunächst Dr. Georg Renno, Arzt aus der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz in Niederösterreich, tätig. Dort hatte er die Patienten „begutachtetet“, die anschließend mit Kohlenmonoxyd vergast wurden.
In Waldniel bat er am 23. Februar 1942 die Leitung in Süchteln, die Pflegerin D. zurückzuversetzen, weil sie passiven Widerstand leisten und das übrige Personal aufhetzen würde. Dr. Renno schrieb: „Auf Grund einer Äußerung … ist anzunehmen, dass D. über die in der Kinderabteilung durchzuführenden Aufgaben im Bilde ist. Trotzdem und trotz der Tatsache, dass sie seit längerer Zeit Parteigenossin ist, hat sie sich gegen die hier durchzuführenden Maßnahmen in direkt feindseliger Weise geäußert, indem sie im Verlauf des erwähnten Gespräches befriedigt erklärte, dass Herr von Galen (Bischof von Münster, Hirtenbrief 1941) das Volk diesbezüglich aufgeklärt habe.“
Hermann Wesse
Zum 1. Oktober 1942 wurde Hermann Wesse als Arzt angestellt. 1948 gab dieser vor dem Schwurgericht Düsseldorf zu, in den neun Monaten seiner Tätigkeit in Hostert mit Hilfe von zwei Krankenschwestern dreißig behinderte Kinder durch die Gabe des Schlafmittels Luminal getötet zu haben. Der Arzt erklärte, er habe, wie vom Reichsausschuss in Berlin vorgeschrieben, die einzelnen Kinder untersucht, den Befund niedergelegt und am Schluss eine für den Reichsausschuss verwertbare Diagnose angefügt, z.B.: „Das Kind leidet an angeborenem Schwachsinn (oder an hirnorganischem Leiden mit Schwachsinn) im Grade einer Idiotie.“ Bei Fällen eines Schwachsinns schweren Grades schrieb er: „Das Kind ist nicht bildungsfähig“. Dies war das Todesurteil für das betreffende Kind in der Fachabteilung. Denn aufgrund dieser Beurteilung erteilte dann der Reichsausschuss die Weisung: „Das Kind ist der Therapie zuzuführen und Sie haben uns von dem Ergebnis in Kenntnis zu setzen.“
Die zur Tötung bestimmten Kinder und Jugendlichen bekamen zunächst je nach Körpergewicht drei bis fünf Luminal-Tabletten. Sie schliefen dadurch ein, bekamen unmittelbar nach dem Erwachen jedoch wieder die gleiche Dosis Luminal. Schließlich wurden sie bewusstlos, bekamen Atemnot, begannen zu röcheln und verstarben unter Schleimaustritt aus Mund und Nase, nach drei bis acht Tagen je nach Konstitution.
Else H.
Elschen z.B. erkrankte als Kleinkind an einer schlimmen Infektion. Danach war sie geistig behindert. Mit acht Jahren kam sie wohnortnah in einem kirchlichen Haus unter und besuchte da die Sonderschule. Von dort wurde das Mädchen in die 80 km entfernte KFA Waldniel-Hostert „verlegt“. Hier wurde es am 9. Januar 1943 kurz vor seinem 12. Geburtstag getötet. Als Todesursache bescheinigte der Arzt Hermann Wesse: erworbenes Hirnleiden, doppelseitige Pneumonie. Der Vater erhielt die Nachricht, seine Tochter sei plötzlich an einer Lungenentzündung gestorben. Empört und fassungslos versuchte er, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Es war vergeblich. Elschen wurde nicht auf dem Anstaltsfriedhof, sondern im Heimatort begraben. Mai 2007 wurde ein Stolperstein vor dem Wohnhaus von Elschen in den Bürgersteig eingelassen (S. 140-154, Kinast, Das Kind ist nicht abrichtfähig, Köln 2014).
Anfang Juli 1943 wurde kriegsbedingt die KFA Waldniel-Hostert aufgelöst. Die verbliebenen 183 Kinder wurden in fünf andere „Fachabteilungen“ abtransportiert, z.B. nach Uchtspringe, Brandenburg-Görden und Ansbach. Insgesamt starben während des Bestehens der KFA Waldniel-Hostert hier 99 Kinder, laut Todesbescheinigung an Auszehrung, an Lungenentzündung, an Herz-Kreislaufschwäche….
19 kleine Patienten kamen in die KFA Ueckermünde, heute Mecklenburg-Vorpommern. Von ihnen verstarben innerhalb eines Monats 12. Von den 38 nach Lüneburg transportierten Waldnieler Kindern überlebten 27 nicht das Kriegsende.
Ansbach verzeichnete am 10. Juli 1943 aus der KFA Waldniel 15 Zugänge. Sieben verstarben, unter ihnen fünf „Reichsausschusskinder“. Als Todesursache wurde Pneumonie notiert. Die Gehirne wurden fast allen entnommen und nach Eglfing-Haar geschickt. Für diese Kinder war vermutlich in Ansbach Dr. Asam-Bruckmüller verantwortlich.
Hermann Wesse war in den folgenden Jahren weiterhin als Tötungsarzt tätig, u.a. in Uchtspringe/Sachsen-Anhalt und im Kalmenhof/Ts.
Hier wurden laut Gerichtsurteil insgesamt 350 Kinder und Jugendliche getötet. 1947 wurde Wesse wegen Mord im Kalmenhof-Prozess in Idstein/Ts. zum Tode, 1948 in Düsseldorf wegen der Morde in Waldniel-Hostert zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt und 1965 wegen Haftunfähigkeit aus der Haft entlassen.
Dr. Georg Renno verließ die Kinderfachabteilung Waldniel Anfang 1942 aufgrund einer offenen Lungentuberkulose. Ein Jahr später war er dann wieder in Hartheim tätig. Erst von 1961 an wurde er vor Gericht gestellt. 1967 ging die Anklage von 25.000 in Hartheim Ermordeten, 20.000 Geisteskranken und 5.000 KZ-Insassen, aus. 1975 wurde das Verfahren wegen der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten endgültig eingestellt. Dr. Georg Renno starb 1997.
Ausweichkrankenhaus Hehler
Während der Kriegszeit von Mitte 1943 bis Oktober 1944 wurde die Zweigstelle Waldniel wegen der Luftangriffe auf die großen Städte auch als „Ausweichkrankenhaus Hehler“ genutzt z.B. für das Städt. Krankenhaus Rheydt oder die Kinderklinik Düsseldorf. In Hostert verstarben viele Menschen, z.B. Kinder der Fremdarbeiterinnen aus Düsseldorf oder Bombenopfer der Luftangriffe auf Rheydt. Auch Bewohner von Hephata Mönchengladbach (Kreisarchiv Viersen Wa 663-187) wurden hier untergebracht. In dieser Zeit gab es notwendigerweise auch arbeitsfähige Patienten in Waldniel, etwa für den Gutshof oder die Küche. Im Februar 1944 waren es 198 (ALVR 13073).
Sterbezahlen
In den Jahren 1939 bis 1945 verstarben in der Zweiganstalt Waldniel insgesamt 554 geistig Behinderte und geistig Kranke, unter ihnen 99 Kinder in der „Kinderfachabteilung“. Die Namen von 75 dieser Kinder und von 363 erwachsenen Patienten finden sich in dem Gräberverzeichnis des Anstaltsfriedhofs. In den Unterlagen des Standesamtes Waldniel, Kreisarchiv Viersen, sind alle, auch die übrigen 116 Todesfälle, dokumentiert. Es sind die Patienten, in deren Todesbescheinigung eine geistigen Krankheit wie Schizophrenie oder eine geistigen Behinderung wie Idiotie als Grunderkrankung festgehalten wurde. Häufig gab der Arzt als Todesursache körperlichen Verfall, Auszehrung, Marasmus, Lungenentzündung oder Tuberkulose sowie eine Herzerkrankung an. Manche dieser Diagnosen lassen sich als Ergebnis der andauernden Mangelversorgung deuten.
Das Diagramm der Patienten-Sterbezahlen für das Jahr 1943 basiert auf der Auswertung der Todesanzeigen der Gemeinde, die sich im Kreisarchiv befinden. Es zeigt, dass Anfang Juli 1943 die Abteilung Waldniel in der Tat geräumt gewesen ist.
Die zivilen Sterbefälle im Ausweichkrankenhaus Hehler in den folgenden Monaten, z.B. die Opfer der schweren Bombenangriffe auf Rheydt, sind hier nicht dargestellt. Diagrammentwurf Peter Zöhren, 2016.
Zwangssterilisation Geplante Mangelversorgung Der „Euthanasie-Erlass“
Belegung und Verlegungen Patientenschicksale